Orientierung

Samstag, 10. Mai 2014

Parlamentarische Rhetorik als Krankheitsbild

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Ein Lese-Tipp

von Dr. G. Dietmar Rode

Im Jahr der Europa-, Kommunal- und Landtagswahlen, ein Jahr nach den Bundestagswahlen, könnte man mal etwas über Parlamentarismus lesen. Roger Willemsen bietet uns da etwas an, denke ich: „Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament“ (S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014, 398 Seiten). 
Es hat immer schon politische Bücher gegeben, die mit Pauken und Trompeten angekündigt wurden, und die man dann nicht zu lesen brauchte, weil sie zur Genüge in aller Öffentlichkeit hin  und her zitiert und zerrissen wurden. Aber bei diesem lohnt es sich, nicht lesen zu lassen, sondern es selbst zu tun.

Roger Willemsen, der wohl gut bekannte Publizist und Entertainer, hat es auf sich genommen, alle Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages im Jahr 2013 zu besuchen und die Parlamentarier bei ihrer verantwortungsvollen Tätigkeit zu beobachten. Mindestens 22 Sitzungswochen und wohl noch viele Zusatzveranstaltungen musste er durchstehen, und er wird es sich vorher kaum erträumt haben, was das für ein hartes Unterfangen wurde.

Paul Watzlawick, der Großvater der Kommunikationswissenschaft, hat einmal formuliert, dass Sach- und Beziehungsebene immer gleichzeitig angesprochen werden, wobei die Beziehung der Partner ausschlaggebend ist. Willemsen bezeichnete wechselseitige Missbilligung und rhetorische Ehrabschneidung als den Grundakkord des Parlamentarismus. Und so sind seine Beobachtungen eine erstaunliche, gespenstig wirkende Sammlung von Beschimpfungen, Verbalinjurien, bewussten Falschinterpretationen und anderen rhetorischen Widerwertigkeiten. Hier kämpfen nicht die Guten gegen die Bösen, sondern die Mehrheitlichen gegen die Minderheitlichen. Die Sprache des Parlaments bezeichnet er deshalb als den verselbstständigten Widerspruch. Es geht nicht um die Sachfragen, sondern um die Behauptung von Machtbeziehungen. Und er führt eine immense Zahl von Beispielen an. Eigene Phrasendrescherei, leere Worthülsen und sophistische Polemik der einen wechseln sich ab mit flegelhaften Störungen durch beleidigende Zwischenrufe, permanenter Schwatzerei sowie Abstrafung durch Aufmerksamkeitsentzug und Ignoranz der anderen. Allein die Tatsache, dass Frau Merkel fast in den meisten Fällen den Saal verlässt, wenn Gregor spricht, lässt selbst den neutralen Beobachter stutzig werden. Ist es schlechte Kinderstube, Angst oder brutale Boshaftigkeit?
Pieter Brueghel:
Großer Turmbau zu Babel (1563)

Zum Schluss hin fiel es mir zunehmend schwer, das Buch mit voller Aufmerksamkeit zu lesen. Zu viel Widerwillen und Ekel stauen sich an. Und dabei bin ich einer von denen, die es ablehnen, „die Politiker“ schlechthin und pauschal zu verurteilen. Es wundert mich jedoch längst nicht mehr, dass aus dem wachsenden politischen Desinteresse vieler „Normalbürger“ eine Aversion gegenüber dieser Berufsgruppe geworden ist. 

Doch da ich chronischer Optimist bin, glaube ich immer noch daran, dass es Medikamente gegen eine solche Krankheit des Parlamentarismus gibt: Erstens: eine starke, kompetente und mutige Opposition. Liebe Abgeordnete der Partei DIE LINKE! Stellt Euch weiter diesen Anforderungen. Ich baue auf Euch! Zweitens: möglichst viele aufklärende und versachlichende Beiträge in den öffentlichen Medien. Danke, Herr Willemsen! Und natürlich drittens und hauptsächlich: das wachsende Bewusstsein der Wähler, den schlechten Parlamentariern zunehmend das Mundwerk zu schließen.

Übrigens: Die Anfrage, ob ich das Buch verborge, erübrigt sich. Ich habe zu viele gemeine Randbemerkungen hineingeschrieben, als dass ich sie veröffentlichen könnte.

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