Orientierung

Dienstag, 23. September 2025

Wilhelm Rettler: Die Einsicht - Zur Diskussion

Skizze durch Copilot
Dialogische Mitteilungen aus Wittenberg Nr. 67 vom 23.9.2025

Klassen und Schichten

In der Einsicht vom 21.9.2025 haben wir Herrn Dr. Rettler die Frage gestellt, ob es denn nicht vertretbar sei, anzunehmen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die aus unterschiedlichen Schichten bestehen, und sich die Schichten nur graduell unterscheiden. Daraufhin hat Herr Rettler geantwortet, wir hätten zwei Klassen, wovon die eine die andere ausbeutet, Bourgeoisie und Arbeiterklasse, da könne von Schichten keine Rede sein. Hiermit ist unsere Leserin Heidemarie Beckdorf (red. geänd.) nicht einverstanden. Sie fragt, was mit der Klasse der Bauern, der Schicht der Intelligenz und dem Kleinbürgertum ist. Darüber sprachen wir mit Herrn Rettler.

DieEinsicht: Herr Rettler, halten Sie an Ihrer Äußerung, dass in Bezug auf unsere Gesellschaft von Schichten keine Rede sein können, fest? 

HerrRettler: Nein, da bin ich über das Ziel hinausgaloppiert. Psychologisch ist dies vielleicht damit zu erklären, dass bei der Gliederung der Gesellschaft viel Schindluder getrieben wird, indem die herrschenden Ideologen dem Volk weismachen, es gäbe keine Klassen mehr.

DieEinsicht: Was sind denn Klassen?

HerrRettler: Die beste Definition stammt von Lenin: „Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen die eine sich die Arbeit der anderen aneignen kann infolge der Verschiedenheit ihres Platzes in einem bestimmen System der gesellschaftlichen Wirtschaft.“ LW 29, 397 ff. 

Der Vollständigkeit halber sei der erster Satz auch noch mitgeteilt: 

„Als Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen.“

Die Unterscheidung einer Gesellschaft in Klasse ist die aussagekräftigste. Mit der Verneinung der Existenz von Klassen wird dem Volk weisgemacht, dass es keine Ausbeutung gebe. Wenn ich aber gesagt habe, es gebe keine Schichten dann ist mir ein Fehler unterlaufen.

DieEinsicht: Wie meinen Sie das?

HerrRettler: Das muss ich mit der Definition des Schichtenbegriffs anfangen. Eine soziale Schicht ist eine Bevölkerungsgruppe innerhalb einer Gesellschaft, die durch gemeinsame Merkmale wie Beruf, Bildung, Einkommen, Ansehen und Lebensstil verbunden ist. Die Angehörigen einer bestimmten Schicht müssen logischerweise nicht ein- und derselbe Klasse angehören. Nehmen wir mal die Schicht der Intelligenz, wobei dieser Ausdruck heute unüblich geworden ist. Dazu würde ein Ingenieur im Betrieb gehören, aber auch ein selbständiger Arzt. Den Ingenieur würde ich zur Arbeiterklasse zählen, wobei man das zu DDR-Zeiten vielleicht nicht so gesehen hat, den Arzt zum Kleinbürgertum. Dasselbe trifft auf einen selbständigen Landwirt zu, während ein Landarbeiter zur Arbeiterklasse gehört. Man kann also nicht sagen, dass die Frage, ob jemand einer bestimmten Schicht zuzuordnen ist, sinnlos ist, entscheidend ist vielmehr, dass entscheidende Kategorie für die Einordnung in die Gesellschaft die Klassenfrage, insbesondere auch für die Beurteilung des Klassenbewusstseins ist.

DieEinsicht: Welche Schichten gibt es?

HerrRettler: Vielfach ist von Unterschicht, Mittelschicht und Oberschicht die Rede. Auf die Klassenzugehörigkeit kommt es dabei nicht an. Ganz unten stehen diejenigen, die von staatlichen Transferleistungen leben und die sogenannten Geringverdiener. Für eine Zwischenkategorisierung bestehen für eine Kategorisierung keine Grenzen. So sprechen manche von unterer Mittelschicht und oberer Mittelschicht. Wer will kann das weiter ausdifferenzieren, je nach Einkommen und Vermögen. Das Schichtenmodell leidet daran, dass es den Blick auf Klassenunterschiede verstellt. Wenn man sich der Tatsache bewusst ist, dass das Primäre die Klassenzugehörigkeit ist, kann man durchaus mit Schichtenüberlegungen operieren.

DieEinsicht: Herr Rettler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Verantwortlich: Dr. Wilhelm Rettler, Bachstraße 22, 06886 Lutherstadt Wittenberg, Druck: Eigendruck. Änderungen verboten. Zuschriften und Bestellungen an whrettler@web.de. Kosten entstehen

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