Orientierung

Samstag, 29. Mai 2021

Die 72 Tage der Pariser Kommune

„… in der eine Regierung des Volks durch das Volk sich bewegt“ Vortrag anlässlich des 150. Jahrstages der Niederschlagung der Pariser Kommune


Dr. Volker Külow
Leipzig, 28. Mai 2021

https://de.wikipedia.org/
wiki/Pariser_Kommune

Genau heute vor 150 Jahren, am 28. Mai 1871, endeten in einem blutigen Massaker, das eine ganze Woche dauerte, die 72 Tage der Pariser Kommune. 72 Tage, in denen in einer Metropole der bürgerlichen Welt nicht ein Ausschuss der besitzenden Klassen, sondern ein Rat der Arbeiter, kleinen Handwerker, Händler und Angestellten – nicht bewusst und zielstrebig, sondern tastend und suchend – die Geschäfte führte. 72 Tage, in denen auf dem Pariser Rathaus die rote Fahne wehte. Aber auch 72 Tage, die heute – irgendwo unterhalb der erstarrten Schemen und Schlagworte – vielfach vergessen sind, auch wenn das „neue deutschland“ und die „junge Welt“ im März zum 150. Geburtstag der Pariser Kommune thematische Beilagen veröffentlichten. Es sind die Kämpfe (oder besser: die Niederlagen) des 20. Jahrhunderts, die den historischen Diskurs der politischen Linken zur Pariser Kommune maßgeblich strukturieren.

 

Dabei war das, was in und mit der Kommune von den Anhängern von Louis-Auguste Blanqui, Pierre-Joseph Proudhon, den Neojakobinern und den wenigen Mitgliedern der von Karl Marx stark beeinflussen Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) verhandelt wurde, im strengen Sinne des Wortes „modern“. Die Klassenkämpfe, die sich 1871 in der Kommune verdichteten, erfassen heute nicht mehr nur, wie damals noch, einige wenige kapitalistische Zentren, sondern beinahe alle Ecken der Welt, in denen gearbeitet wird: Überall stehen sich Eigentümerklasse und Arbeiterklasse gegenüber. Was nicht ansatzweise im gleichen Maße gewachsen ist, ist das Bewusstsein darüber, dass es nicht damit getan ist, einfach „andere Leute“ in die Rathäuser und Ministerien zu setzen, die dann den Alltag der Lohnarbeit für die Arbeiterklasse eine Spur erträglicher machen. Heute ist diese Einsicht in der linken Bewegung vielfach verschüttet – vielen KommunardInnen war sie allerdings nicht fremd. Von einem ist diese in einer Diskussion gestellte Frage überliefert: „Welchen Unterschied macht es für mich, dass wir Versailles besiegen, wenn wir keine Antwort auf die soziale Frage finden, wenn also der Arbeiter unter den gleichen Bedingungen weiterlebt?“

 Die Kommune war, auch wenn sie keine Gelegenheit hatte, dieses Problem praktisch anzufassen, eine Kampfansage an die bürgerliche Ordnung des Eigentums. Und sie wurde von der Gegenseite auch sofort als solche verstanden – viel schneller, als ihre AkteurInnen selbst davon einen Begriff hatten. Das erklärt die gelegentlich missbilligte „Gutmütigkeit“ der Kommunarden: Sie ließen am Tag ihres Sieges Mitglieder und Mitarbeiter der gestürzten Regierung nach Versailles abreisen und unternahmen nichts, um den Aufmarsch der Gegenrevolution, den diese dort ins Werk setzten, zu stören. Kaum etwas wurde getan, um die Pariser Bewegung auf den Rest des Landes auszudehnen. „Die Defensive ist der Tod jedes bewaffneten Aufstandes; er ist verloren, noch bevor er sich mit dem Feind gemessen hat“, hatte Friedrich Engels schon 20 Jahre vor dem Massaker geschrieben, mit dem die „Kräfte der Ordnung“ die Kommune zerschlugen.

 Ich kann und will mit meinem kleinen Vortrag zur Pariser Kommune heute nur anregen, sich gründlicher mit den Kämpfen im Frühjahr 1871 zu beschäftigen. Mag vieles davon vor allem den Historiker angehen: Nach der politischen Seite hin gehört die Pariser Kommune zum immer wieder neu anzueignenden Erbe für alle Menschen, die den Kapitalismus und dessen politische Ordnung zum Teufel wünschen. Engels hat über die Kommune geschrieben, sie habe gezeigt, wie der Arbeiterklasse die politische Herrschaft „ganz von selbst, ganz unbestritten in den Schoß“ fallen könne, aber eben auch, „wie unmöglich“ damals „diese Herrschaft der Arbeiterklasse war“. Der heute erreichte Stand der materiellen und immateriellen Machtmittel des bürgerlichen Staates stellt sicher, dass „ganz von selbst“ gar nichts mehr passieren wird. Ob die „Herrschaft der Arbeiterklasse“ – oder wie immer man den damit gemeinten politischen Inhalt in Zukunft nennen wird – auch 150 Jahre später noch „unmöglich“ ist, werden die vor uns liegenden Kämpfe zeigen. Dass diese kommen werden, ist sicher.

Damit nun direkt zum historischen Geschehen, das naturgemäß mit der Vorgeschichte der Kommune beginnt. Dazu müssen wir uns das damals in Frankreich etablierte Herrschaftssystem, den sogenannten Bonapartismus, etwas genauer anschauen. Frankreich war 1852 zum zweiten Mal ein Kaiserreich geworden, regiert von Napoleon III., vormals Louis Napoleon, einem Neffen von Napoleon Bonaparte. Napoleon III. vollzog am 2. Dezember 1851 seinen berüchtigten Staatsstreich, der Marx im Mai 1852 zu seiner bedeutenden Schrift „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“ veranlasste. Diesem Text entstammt eines der berühmtesten Marx-Zitate, das auch für die Analyse der Pariser Kommune unverzichtbar ist: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“

Auf der einen Seite kam es während der Herrschaft von Napoleon III. zur Schwächung der Exekutive, auf der anderen Seite versuchte der französische Kaiser, sich durch populäre Maßnahmen eine breite Zustimmung der Bevölkerung zu sichern. Dies scheiterte jedoch und so setze in den 1860er Jahren eine neue Streiktätigkeit ein, die eine bedeutende Quelle für die Kommune von 1871 werden sollte.

 In den 1850er Jahren hatte das zweite Kaiserreich vor allem in den bürgerlichen Klassen breite Unterstützung genossen. Das Bürgertum baute angesichts der „roten Gefahr“, der Revolution von 1848 und der folgenden Wirtschaftskrise, auf Napoleon, da es glaubte, dieser sei dazu imstande, den Privatbesitz an Produktionsmitteln und die öffentliche Ruhe und Ordnung zu garantieren.

Der Bonapartismus als Herrschaftsregime hatte dabei das Prinzip der Verantwortung der Regierung vor dem Parlament aufgehoben und dem Kaiser weiten Raum für autoritäre Entscheidungen eingeräumt. Diesen nutzte Napoleon nach 1860 beispielsweise für eine Freihandelspolitik, die allerdings nur den

Interessen bestimmter Industriegruppen entsprach und seine Macht im liberalen Bürgertum eher schwächte. Dieses pochte gegen den Autoritarismus von Napoleon auf weitere Liberalisierung und politische Mitbestimmung.

Gleichzeitig gelang es dem Regime durchaus erfolgreich, u.a. durch steigende Profite zur Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards beizutragen. Die Zustimmung zum Kaiserreich kam auch bei periodisch abgehaltenen Volksbefragungen und bei – allerdings manipulierten – Wahlen zum Ausdruck.

Die Arbeiterbevölkerung der damaligen Zeit war in ihrer Mehrheit noch nicht durch industrielle Fabrikarbeit charakterisiert. Die Zahl der Großbetriebe im Bergbau, Eisen- und Textilsektor nahm zwar im zweiten Kaiserreich zu, aber sie dominierten noch in keinem Sektor. Die Werkstatt prägte stärker als die

Fabrik den Arbeitsalltag der meisten Arbeitenden und der handwerklich

qualifizierte Facharbeiter beherrschte weithin stärker als der ungelernte Industriearbeiter die Welt der Arbeit. Insbesondere bewahrte auch die Agrarwirtschaft, die nach wie vor die Mehrheit der französischen Bevölkerung ernährte und in der ebenso der Kleinbetrieb vorherrschte, seine traditionellen

Strukturen. Nach wie vor bildeten diese vor- und frühindustrielle Wirtschaftsorientierung und Produktionsformen Hindernisse für einen schnellen Siegeszug des Kapitals mit seiner zunehmenden Konzentration und Zentralisation von Kapital und Arbeit. Es war dieses Neben- und Gegeneinander von Tradition und Innovation, das die damalige französische Gesellschaft charakterisierte und in den sozialen und politischen Konflikten deutlich zu Tage treten sollte.

 Zu diesen Konflikten gehörten vor allem die deutlich zunehmenden

Streiks. Die Streikbewegung erreichte in den beiden Jahren vor der Pariser Kommune einen Umfang, den sie bis 1914 nicht wieder erzielte. Die Ausdehnung der Streiks wurde begünstigt durch ihren zunehmenden

Erfolg. 1869 waren 80 Prozent der Streiks erfolgreich. Trotz der Streiks, der Existenz der 1864 gegründeten IAA und vielfältiger Organisationsversuche von Arbeitern in zahlreichen Städten wäre es falsch, sie alle sozialistischen Zielen zuzurechnen.

Um sich gegen diese verstärkende Opposition im Inneren aufzustellen, richtete Napoleon III. seinen Blick zunehmend auf eine aggressive Außenpolitik. Mit dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 verband das bonapartistische Regime das Kalkül, diese innenpolitischen Probleme zu verdrängen und mit der Verteidigung der nationalen Einheit dem Kaisertum eine neue Legitimationsgrundlage zu verschaffen. Doch schlug diese strategische Absicht  angesichts der militärischen Überlegenheit der preußisch-deutschen Truppen gründlich fehl. Als der Bonapartismus im Krieg seine militärische Schwäche demonstrierte, fielen ohne Zögern auch jene von ihm ab, die bis dato ihre politische Zukunft mit ihm verflochten hatten. Das Regime Napoleons III. verschwand weitgehend geräuschlos.

 Während in diesem Machtvakuum ein Teil der Bevölkerung, der eher in Städten angesiedelt war, für eine Fortführung des militärischen Widerstands eintrat, verhandelte die neue republikanische Regierung Friedensbedingungen mit der deutschen Seite, um eine Radikalisierung der Volksbewegungen zu verhindern.

In Paris wie in Lyon, Marseille oder Bordeaux stießen schon im Herbst 1870 beide Richtungen aufeinander und führten zu oftmals gewaltsam ausgetragenen innerstädtischen Konflikten, die vielerorts in der Proklamation der Kommune münden sollte. Lange bevor im März 1871 in Paris die Kommune proklamiert wurde, war in der französischen Provinz bereits eine autonome Bewegung entstanden, die sich gegen die Pariser Bevormundung stellte und auf eigene politische Traditionen zurückgreifen konnte. Diese Bewegung in allen Teilen des Landes forderte die Gründung selbstständiger, lokaler Kommunen sowie deren föderalen Zusammenschluss. Überall kam es zu Ausschreitungen, Aufständen und Demonstrationen. Der berühmte russische Revolutionär Michail Bakunin, damals in Frankreich aktiv, kommentierte dies in einem Brief vom April 1870: „Zunächst ist durchaus nicht bewiesen, dass die revolutionäre Bewegung absolut in Paris beginnen muss. Es ist gar nicht unwahrscheinlich, dass sie in der Provinz beginnt.“

 Bakunin sollte Recht behalten. In Frankreich tobte seit August 1870 der deutsch-französische Krieg, den Frankreich drohte zu verlieren. Die Gefahr des Krieges war in den Provinzstädten bereits virulent, bevor Paris vom Krieg unmittelbar betroffen war. So regte sich in der Provinz zunehmender Widerstand gegen den Krieg und es kam verstärkt zu Streiks. Die Streiks in den Regionen um Rouen, Roubaix, Lyon und Clermont-Ferrand fielen dabei recht radikal aus und wurden von öffentlichen Versammlungen begleitet. Bedeutend war dabei, dass die versammelten Menschen mehrheitlich nicht in politischen Gruppierungen organisiert waren, sondern zumeist einfachen Arbeitern und Handwerkern. Aus diesen Versammlungen entwickelte sich im Herbst 1870 eine revolutionäre Bewegung, die nicht nur die kaiserliche Regierung unter Napoleon III. stürzen wollte, sondern eigene Vorstellungen einer sozialen Gemeinschaft entwickelte.

Nach der katastrophalen Niederlage von Sedan am 2. September 1870 wurde Napoleon III. gefangen genommen und in Paris die Republik ausgerufen – der Krieg ging allerdings weiter. Die Etablierung der Republik hatte in Paris und den Provinzen unterschiedliche Folgen. Der Norden des Landes war ohnehin von den Deutschen besetzt, was zur politischen Passivität führen musste. Lediglich im Süden des Landes wurde die Ausrufung der Republik aktiver aufgenommen. Dort, wo es bereits in den 1850/60er Jahren zu republikanischen und demokratischen Bestrebungen gekommen war, wurden nun Forderungen nach weitergehenden Veränderungen der Gesellschaft laut. In rund einem halben Dutzend französischer Städte, wie z.B. in Lyon oder Marseille, wurden autonome Kommunen proklamiert.

 

Im gesamten Land griffen die KommunardInnen staatliche Institutionen – Polizeihauptquartiere, Parlamentsgebäude und Gefängnisse – sowie ökonomische Ziele wie Luxusgeschäfte an. Getragen wurde die Bewegung von Arbeitern und Handwerkern, aber auch von Kleinbürgern. In Lyon und Marseille wirkten auch Erwerbslose am Aufbau der jeweiligen Kommune mit. Dazu kamen bäuerlich geprägte Wanderarbeiter, Frauen und Kinder. Sie alle konnten sich auf die radikaldemokratische Forderung nach kommunaler Autonomie, Existenzrecht und Dezentralisierung verständigen. Dies waren in den Provinzen die Hauptparolen der Revolutionäre. Die KommunardInnen wollten damit nicht nur einen Regierungswechsel herbeiführen. Es ging ihnen nicht darum, den Staat zu reformieren, sondern die Gesellschaft radikal zu verändern; die proletarische Kommunebewegung in der Provinz wollte den Staat durch eigene revolutionäre Komitees und Räte ersetzen. Damit einher ging auch die Ablehnung des Zentralismus. Für die Kommunen in den Provinzen sollte Paris nicht die Hauptstadt von Frankreich werden, sondern die einzelnen Städte sollten sich zu einem autonomen Kollektiv in einer landesweiten Föderation verbinden. Trotz ihrer kurzen Existenz führten die unterschiedlichen Kommunen eine Reihe wichtiger revolutionärer Maßnahmen durch wie z.B. die Neubesetzung des Polizei- und Beamtenapparates, die Befreiung der politischen Gefangenen, die Einführung der weltlichen Bildung sowie die Besteuerung der Reichen. Diese Vorstellungen flossen später auch in die Kommune von Paris ein. Während im Herbst und Winter 1870/71 im gesamten Land Kommunen

ausgerufen wurden, kam es überall zu Verbrüderungen zwischen der Bevölkerung und desertierten Soldaten. Diese organisierten sich selbst, wählten ihre Offiziere und übernahmen die Verteidigung der Kommunen. Zugleich kam es zur Bewaffnung der Bevölkerung. Dies war ein fester Bestandteil der kommunalen Tradition. Somit war die Kommunebewegung vor allem eine

bewaffnete Revolution und sich ihrer Mittel völlig bewusst. Es gelang es ihnen jedoch nicht, eine gemeinsame Schlagkraft zu entwickeln. Zwar gab es einzelne Versuche, die Forderungen zu koordinieren, jedoch kam es zu keiner ernsthaften Zusammenarbeit der revolutionären Brennpunkte. Diese blieben lokal vereinzelt und kurzlebig.

Dies lag natürlich auch an den Bedingungen des andauernden Krieges und der Repression des französischen Staates. Für die neue republikanische Zentralregierung war es von entscheidender Bedeutung, die lokalen Revolten zu isolieren, um deren weitere Verbreitung zu unterbinden. Neben der offenen militärischen Intervention wurden beispielsweise auch Reisepässe wieder eingeführt, die für innerfranzösische Reisen nötig waren. Ebenso wurde die Presse zensiert. Bereits Ende 1870 gab es im Grunde keine Möglichkeit mehr, die verschiedenen Kämpfe erfolgreich zu vereinen. So hatte die Pariser Kommune faktisch bereits verloren, bevor sie in Paris ausgerufen wurde. Das alles hatte Karl Marx in London schon frühzeitig erkannt und ihn mit Skepsis gegenüber den kommenden Ereignissen erfüllt.

 Damit zur unmittelbaren Entstehung der Kommune am 18. März 1871.

Bereits Anfang Oktober 870 hatte sich der deutsche Belagerungsring um Paris geschlossen; alle Versuche des französischen Militärs, diesen Ring zu sprengen, scheiterten. Mit dem am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles gegründeten Deutschen Reich begannen nunmehr die Waffenstillstandsverhandlungen der republikanischen Regierung Frankreichs, deren Autorität allerdings fragil war. Im Februar 1871 hatten Wahlen zur Nationalversammlung stattgefunden, bei der die Großgrundbesitzer und Monarchisten die Oberhand gewannen. Die neue Nationalversammlung trat in Bordeaux zusammen, weit weg von den deutschen Truppen um Paris. Hier konstituierte sich auch die neue Regierung unter Jules Favre und Adolphe Thiers, letzterer ein eingefleischter Verfechter der konstitutionellen Monarchie. In Paris wurden sowohl der Tagungsort der Nationalversammlung als auch die Zusammensetzung der neuen Regierung als Verrat am monatelangen Kampf der Regierung zur Verteidigung gegen die deutsche Invasion aufgefasst. In den  Quartieren der Arbeiterschaft und im Kleinbürgertum gärte es. Die Situation spitzte sich zu, als am 18. März Armeeeinheiten versuchten, Geschütze der Nationalgarde in ihren Besitz zu bringen. Als die neue Regierung am frühen Morgen des 18. März 1871 ihre Truppen in Marsch setzte, um die Stellungen der Nationalgarde im Handstreich zu nehmen und die Geschütze in die Arsenale der Regierung zu bringen, brach der Aufstand auf.  Die Wohnviertel erwachten  und die Menschen sahen, was auf den Straßen vor sich ging. Prosper Lissagaray, der bedeutendste Chronist der Pariser Kommune, beschrieb, was daraufhin geschah: „Die Frauen gingen wie in unsern großen Tagen zuerst vor. Die vom 18. März […] warteten nicht auf ihre Männer. Sie umringten die Mitrailleusen und redeten die Stückführer an: ‚Das ist eine Schande, was machst du da?‘ Die Soldaten schwiegen. […] Auf dem Montmartre gab General Lecomte seinen Soldaten den Befehl, auf die Frauen und Männer zu schießen. Die Soldaten verweigerten den Befehl, verbrüderten sich mit den Nationalgardisten und verhafteten den General.“

 

Von dem Scheitern des geplanten Raubs und von der Entschlossenheit in den Pariser Arbeitervierteln überrascht, beschloss die Regierung mit den loyalen Regimentern die Stadt in Richtung Versailles zu verlassen, nachdem bei dieser  mangelhaft koordinierten Aktion zwei Generäle von der aufgebrachten Menge zu Tode gebracht wurden. Der folgende Abmarsch verlief weitgehend störungsfrei, weil die Bataillone der Nationalgarde sich – in Erwartung eines erneuten Angriffs durch die Regierung – in ihren Stadtvierteln verbarrikadierten. Als am Abend die Sonne über Paris unterging, stand das Zentralkomitee der Nationalgarde vor der Aufgabe, das Amt einer provisorischen Regierung zu übernehmen und die ersten Schritte auf dem Weg zu einer wahrhaften sozialen Republik zu bahnen.

Es bleibt an dieser Stelle festzuhalten: Die Kommune konnte tatsächlich nur Wirklichkeit werden unter den Bedingungen der deutschen Besatzung und der damit verbundenen relativen Schwäche der bürgerlichen Zentralregierung. Sie entstand spontan, ohne die Avantgarde einer Partei und ohne charismatische Führungsgestalten – insofern war die Pariser Kommune ein historischer Zufall. Zugleich zeugte sie davon, dass die französische Arbeiterbewegung nach der blutigen Niederlage von 1848 wieder wagte, eigene Vorstellungen zu formulieren und sie in der Praxis zu erproben.   

 Die erste Amtshandlung des Zentralkomitees der Nationalgarde als provisorische Regierung der Stadt Paris war am 19. März 1871 die Veröffentlichung des Aufrufs zur Wahl zum Kommunerat. Dieser orientierte die Wählerschaft darauf, dass die Revolution vom 18. März den Grundstein gelegt habe für eine französische Republik, die für alle Zeiten die „[...] Ära der Invasionen und des Bürgerkrieges abschließen [...]“ werde. Am 26. März fanden die Wahlen statt und zwei Tage später konstituierte sich die Pariser

Kommune. Im Kommunerat waren neben einigen Liberalen, kleinbürgerliche Radikale, Anarchisten, Jakobiner und sozialistische Revolutionäre vertreten, die auf Grund ihrer unterschiedlichen Weltanschauungen mit- und bisweilen nebeneinander arbeiteten. Von daher blieben viele Positionen und Maßnahmen der Kommune vage. Zugleich war dieses Zusammenwirken an der gemeinsamen Verteidigung der neugeschaffenen Ordnung in Paris auch eine der Stärken der Kommune. Eine umfassende Würdigung des Wirkens des Kommunerats darf dabei die begrenzte Zeit nicht übersehen, die seinen Mitgliedern zur Verfügung stand. Er existierte vom 28. März bis zum 25. Mai.

 

Bereits ab dem 2. April gingen die Truppen aus Versailles zur Offensive gegen die Stadt über und drängten der Pariser Kommune den Krieg auf. Dem Parlament und der Exekutive in Versailles galten die Kommu­nar­dInnen als Aufrührer. Der Beschluss, gegen sie zu Felde zu ziehen, konnte auf teils passive, teils aktive Unterstützung des deutschen Militärs rechnen. Denn schließlich: Der „Aufstand in Paris“, so Kanzler Bismarck Ende April, sei ein gegen alle bürgerliche Ordnung gerichteter „Versuch zur Verwirklichung sozialistischer und kommunistischer Phantasien“. Diesen „Phantasien“ einen Riegel vorzuschieben, lag im beiderseitigen Interesse. Für die eigentliche politische Arbeit der Pariser Kommune standen nur wenige Wochen zur Verfügung. Gleichwohl erließ der Kommunerat in dieser kurzen Zeit etliche wichtige Dekrete, die auf eine grundlegende soziale Veränderung der Gesellschaft abzielten. Sie waren in erster Linie Reaktionen auf die Lebenssituation in Paris. Zugleich wiesen sie aber auch die Richtung für den Aufbau einer sozialen Republik, die von Arbeitern und Handwerkern getragen wird und ihren Lebensinteressen Ausdruck gibt. Revolutionär waren dabei vor allem die Beschlüsse, die demokratische Strukturen in der Stadt umsetzen sollten. Zu ihnen gehört die Begrenzung der Löhne von Abgeordneten und Beamten und die jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit der Amtsträger. Sie machten vor allem deutlich, wie ein basisdemokratisches Gemeinwesen organisiert werden kann, in dem möglichst viele Menschen an der Gestaltung ihrer Lebensbedingungen teilhaben. Insofern war die wichtigste konkrete Maßnahme der Pariser Kommune ihr eigenes arbeitendes Dasein. Dazu zählte auch das berühmte Nachtarbeitsverbot für Bäckergesellen; es wurden die Mietschulden aus dem Belagerungswinter 1870/71 annulliert und Zwangsversteigerungen bei den Ärmsten der Armen gestoppt. Man hütete sich aber, das Eigentum der Besitzenden anzutasten; Arbeiter konnten jedoch zumindest die von den Besitzern aufgegebenen Betriebe weiterführen. Bildung sollte es fortan kostenlos geben, Kirche und Staat wurden getrennt.  

 Entscheidend für die Umsetzung dieser Praxis waren maßgeblich die politischen

Clubs, die Stadtteilkomitees und die Bataillone der Nationalgarde, die Einfluss auf die Arbeit des Kommunerats nahmen. Zu ihnen gehörten auch die Organisationen der Pariser Frauen, die sich aktiv in der Gestaltung und Verteidigung der Kommune engagierten und für ihre gleichberechtigte Teilhabe

am gesellschaftlichen Leben stritten. Als sich im März 1871 die Pariser Kommune konstituierte, waren weder im Kommunerat noch im Zentralkomitee der Nationalgarde Frauen vertreten. Trotzdem gilt die Kommune zu Recht als stark von Frauen mitgeprägt. Wie ist dieser Umstand zu erklären? Tatsächlich haben Frauen in der Pariser Kommune eine größere Rolle gespielt als in anderen Männerrevolutionen des 19. Jahrhunderts.

 Dafür gab es zwei Gründe: einmal die Situation der Belagerung, bei der sich Öffentliches und Privates vermischt hatten, weil die Politik unmittelbare Auswirkungen auf die Haushalte hatte und damit auf die Bereiche, wofür die Frauen zuständig waren. Zum anderen gab es damals eine aktive feministische

Bewegung in Frankreich, die sich bereits in den 1860er Jahren gegründet hatte, um Frauenrechte durchzusetzen. Das war angesichts der Zweisphärenideologie, die sich in den französischen intellektuellen Männerkreisen festgesetzt hatte, wonach Frauen nur in der Familie ihre Wirkungsstätte haben sollten und eben nicht im Bereich der Öffentlichkeit, auch dringend notwendig. Diese beiden Gründe haben dazu geführt, dass die Frauen vergleichsweise sichtbarer waren in der Pariser Kommune als bislang üblich, und das hat dann wiederum dazu geführt, dass unmittelbar im Anschluss an die Pariser Kommune die Frauenfrage zur Mythologisierung und auch zur Instrumentalisierung verwendet wurde: Die Linken sagten, die Kommune war so toll, dass sogar die Frauen

sie unterstützt haben und die Rechten postulierten, die Kommune war so schrecklich, sogar Frauen haben da mitgemacht. Dieses Argumentationsmuster ist schon in den historischen Quellen belegbar. So entstand dieser Mythos der Frauen der Kommune.

Ein ganz wichtiger Bereich war natürlich die Organisation des Alltags, also Essensbeschaffung und Verteilung, das Am-Laufen-Halten der Werkstätten, die von ihren Besitzern verlassen worden waren, die Versorgung von Verwundeten und die Versorgung der Kämpfenden mit Essen, das war in der Hand von Frauen, vor allem der Union des Femmes. Auf der anderen Seite entwickelten sich aus dieser feministischen Szene heraus auch Vereinigungen und Publikationen, in denen Frauen die Kommune kritisch mit Analysen und Kommentaren begleitet haben.

 

Die Union des Femmes war die große Frauenorganisation der Kommune, in der sich Frauen registrieren lassen konnten, wenn sie Arbeit suchten oder wenn sie die Kommune unterstützen wollten, sie war ein Scharnier war zur Kommuneregierung. Die Union des Femmes hat auch mit dem Kommunerat über höhere Löhne verhandelt oder einen Mindestpreis für Näharbeiten vereinbart, die die Kommune bei der Union des Femmes einkaufte. Darüber hinaus gab es so genannte Widerstandskomitees in allen Stadtteilen, in denen sich auch regelmäßig Frauen aus dem Viertel trafen, um sowohl praktische Fragen zu organisieren als auch inhaltlich zu debattieren, wie es weitergehen soll mit der Kommune. Es gab neben den gemischten Komitees auch reine Frauenkomitees wie das in Montmartre, das direkt aus einer feministischen Gruppierung hervorgegangen war.

Die Frauen der Kommune gelten durchaus als treibende Kraft in der Kommune. Allerdings gibt es bisher kaum detaillierte Forschungen zu ihren Aktivitäten und Wirkungen. Viele offene Fragen sind diesbezüglich noch zu bearbeiten; insbesondere die Zeitungsarchive warten auf ihre Durchforstung, um z.B. die  Artikel von André Léo und Anna Jaclard zu analysieren, die eine eigene Zeitung herausgegeben hatten. Bekannter sind natürlich die Positionen der legendären  Kommunardin Louise Michel. Ihre Texte sind allerdings eher poetische Gefühlsausbrüche und keine objektive Analyse. Louise Michel wurde durch die Erfahrungen der Pariser Kommune zur Anarchistin und gelangte zur Überzeugung, dass man bei der Eroberung der institutionellen Macht vor der Wahl steht, entweder zu verlieren, weil die anderen einfach stärker sind, oder aber auch korrupt zu werden und so die eigenen Werte zu verraten. 

 Wie die Pariser Kommune auf ihre Gegner und die europäische Öffentlichkeit wirkte, ebenfalls kurz skizziert werden. Am Ostermontag 1871 wurde Edmond de Goncourt um drei Uhr morgens von Sturm- und Totengeläut geweckt: „Das gewaltige jammervolle Klagen der großen Glocke von Notre-Dame liegt über dem Geläute sämt­licher Glocken von Paris, übertönt  den Lärm des Alarmtrom­melns und versinkt in dem Geschrei der Menschen, das mir zu den Waffen zu rufen scheint“, erfahren wir aus dem legendären Tagebuch, das er mit Bruder Jules am 2. Dezember 1851 begonnen und nach dessen frühem Tod 1871 bis zu seinem Ableben 1896 45 Jahre lang geführt hat. Der Beobachter erahnt, dass unglaubliche Dinge im Schwange sind: „Im Augenblick sind Frankreich und Paris jedenfalls in der Hand und unter der Fuchtel der Arbeiter, die uns eine Regierung beschert haben, die nur aus ihren Männern zusammen­ge­stoppelt ist. Wie lange wird das halten? Man weiß es nicht. Unglaubliches Regime!“

Die bürgerliche Welt war schockiert und viele Jahre durch traumatisch gesteigerte Revolutionsfurcht existentiell verunsichert. Als Kronzeuge empfiehlt sich Friedrich Nietzsche: „Als ich von dem Pariser Brande vernahm, so, war ich für einige Tage völlig vernichtet und aufgelöst in Thränen und Zweifeln: die ganze wissenschaftliche und künstlerische Existenz erschien mir eine Absurdität, wenn ein einzelner Tag die herrlichsten Kunstwerke, ja ganze Perioden der Kunst austilgen konnte.“ Durch die vermeintliche Brandschatzung des Louvre tief erschüttert, schlug er zunächst die Einladung zum Pfingstbesuch bei Cosima und Richard Wagner aus. Erst ein Tele­gramm des Maestro vermochte ihn umzustimmen. Dass der Philosoph und Schwes­ter Elisabeth in Tribschen zu Gast waren, bezeugen Tagebuchnotate Cosima Wag­ners vom 28. Mai 1871: „R[ichard] spricht nun heftig über den Brand und seine Bedeutung, […] Pr[ofessor] Nietzsche sagt, daß für den Gelehrten die ganze Exis­tenz aufhöre bei solchen Ereignissen. Von Bakunin gesprochen, ob dieser mit ansteckt?“

 Völlig gegensätzlich waren die Reaktionen in der internationalen Arbeiterbewegung. In vielen europäischen Städten kam es im Frühjahr 1871 zu Bekundungen der Verbundenheit der Arbeiterbewegung mit ihren Genossinnen und Genossen in Paris, so im Londoner Hyde Park, in Brüssel und Lüttich, Wien, Barcelona, Madrid, Linz, Prag und Budapest, in Rom, Mailand und Florenz. Besonders die sozialistische Parteipresse trug den Solidaritätsgedanken in die Arbeiterklasse hinein. Aus der Niederlage der Pariser Kommune und dem damit verbundenen furchtbaren Blutzoll schien die internationale Arbeiterbewegung die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu schöpfen. Franz Mehring schrieb: „Überall, wo es in deutschen Landen ein klassenbewusstes Proletariat gab, antwortete ein heller Jubelruf der revolutionären Erhebung der Pariser Arbeiter. Weder die Lassalleaner noch die Eisenacher schwankten auch nur einen Augenblick; Massenversammlungen in Berlin, Hamburg, Bremen, Hannover, Elberfeld wie in Dresden, Leipzig und Chemnitz erklärten der sozialen Revolution in Paris brüderliche Grüße der deutschen Arbeiter.“

 Gerade die deutsche Arbeiterbewegung spielte in der internationalen Solidarität mit der Pariser Kommune eine bedeutende Rolle. Wesentlich dürfte hier der Einfluss von Karl Marx gewesen sein, der in Korrespondenzen immer wieder darauf drängte, authentische Berichte aus Paris zu beschaffen und zu veröffentlichen. An Wilhelm Liebknecht schrieb er am 6. April 1871: „Von allem Zeug, was Du in den Zeitungen über die inneren Vorgänge in Paris zu Gesicht bekommst, musst Du kein Wort glauben. Es ist alles Lug und Trug.“ Wenige Tage vor dem blutigen Ende der Kommune hatte August Bebel Regierende wie Besitzende in Schrecken versetzt, als er am 25. Mai 1871 im Berliner Reichstag die Kommune folgendes erklärte: : „Meine Herren, mögen die Bestrebungen der Kommune in Ihren Augen noch so verwerfliche oder – wie gestern im Hause privatim geäußert wurde – verrückte sein, seien Sie fest überzeugt, das ganze europäische Proletariat und alles, was noch ein Gefühl für Freiheit und Unabhängigkeit in der Brust trägt, sieht auf Paris. Meine Herren, und wenn auch im Augenblick Paris unterdrückt ist, dann erinnere ich Sie daran, dass der Kampf in Paris nur ein kleines Vorpostengefecht ist, dass die Hauptsache in Europa uns noch bevorsteht und dass, ehe wenige Jahrzehnte vergehen, der Schlachtenruf des Pariser Proletariats ›Krieg den Palästen, Friede den Hütten, Tod der Not und dem Müßiggange!‹ der Schlachtruf des gesamten europäischen Proletariats werden wird.“

 

Wegen ihrer unverbrüchlichen Solidarität mit der Pariser Kommune landeten Bebel und sein Freund und Mitstreiter Wilhelm Liebknecht ein Jahr später vor Gericht. Im Leipziger Hochverratsprozess wurden beide wegen ihres Friedensvorschlags vom 26. November 1870 und der damit verbundenen Ablehnung der Annexion von Elsaß-Lothringen vor dem Königlich-Sächsischen Schwurgericht am 26. März 1872 zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt. August Bebel wurde darüber hinaus sein Reichstagsmandat aberkannt. Am Nachfolgegebäude des seinerzeitigen Schwurgerichts in der Beethovenstrasse/Ecke Peterssteinweg befindet sich seit vielen Jahren eine massive Gedenktafel, die an die mutige Tat von Bebel und Liebknecht erinnert.   

Nicht verschwiegen werden sollte an dieser Stelle, dass sich vor dem Hintergrund der Niederlage der Kommune innerhalb der IAA die Konflikte zwischen den sozialistisch-kommunistischen Akteuren um Karl Marx und den anarchistischen Akteuren um Michail Bakunin vertieften und sich vor allem in der Frage der zukünftigen Organisationsstruktur der IAA zuspitzten. Während der Marx-Flügel eine politische Zentralisierung der Gesamtorganisation und einen gezielten Ausbau der nationalen und föderalen Sektionen im Sinne der Stärkung der politischen Schlagkraft forderte und auf der Londoner Konferenz vom 17. bis zum 23. September 1871 auch durchsetzte, lehnten vor allem die anarchistische Strömung und die Proudhonisten jedwede Zentralisierung strikt ab und verfolgten eine Strategie des Föderalismus ohne politisch-organisatorische Zentrale. In der Phase der politischen Reaktion nach der Niederschlagung der Kommune führte dies zur Spaltung der IAA und schlussendlich zu ihrer Auflösung im Juli 1876.

 

Seit dem 2. April 1871 musste sich die Pariser Kommune der militärischen Offensive der französischen Regierung erwehren. Am 21. Mai gelang den Truppen aus Versailles die Überwindung der Pariser Stadtbefestigung. In den kommenden sieben Tagen eroberten sie Paris gegen den erbitterten Widerstand der Kommunardinnen und Kommunarden Straße für Straße und Barrikade für Barrikade. Wo immer eine Stellung der Kommune fiel, traten die Erschießungskommandos aus Versailles in Aktion, die nahezu alle überlebenden Verteidigerinnen und Verteidiger hinrichteten. Am 29. Mai erklärte Adolphe Thiers, die Ordnung in Paris sei wieder hergestellt. Doch mit dem Ende des Widerstands in Paris endete das Morden nicht. Noch bis Mitte Juni waren Hinrichtungen und Morde an den Besiegten in Paris an der Tagesordnung. Der schon zitierte Augenzeuge Lissagaray schilderte, wie wohlhabende Pariserinnen und Pariser zur gleichen Zeit wieder Besitz von „ihrer“ Stadt nahmen: „Seit Donnerstag lief dieser behandschuhte, in Seide gehüllte Pöbel den Gefangenen nach, jauchzte den Gendarmen zu, welche die Züge führten und jubelte beim Anblick der blutigen Möbelwagen. Die Philister wetteiferten mit dem Militär an Ausgelassenheit.“

 Nachdem Thiers’ Versailler Regierungstruppen mit Rückendeckung der deutschen Besatzer das frühproletarische Regierungsexperiment blutig been­dete hatte, wurde das ganze Ausmaß der Vergeltung deutlich. In offiziellen Berichten ist von 17 000 Getöteten die Rede. Die „Semaine sanglante“, die blutige Woche, war das furchtbarste Blutbad in der Geschichte der französischen Hauptstadt gewesen. Die Versailler Truppen machten 43.522 Gefangene. 24 Kriegs­gerichte benötigten vier Jahre, um 10.137 Menschen, darunter auch Frauen und Kinder, abzuurteilen. In 93 Fällen wurde die Todesstrafe verhängt, die Mehrzahl der Verurteilten erhielten mehr oder weniger lange Haftstrafen, In den Festungen an der französischen Atlantikküste, vor allem aber in den – als trockene Guillotine bekannten – Gefangenenkolonien in Neukaledonien starben zahlreiche Kämpferinnen und Kämpfer der Kommune.

 Während der ersten Wochen dieser blutigen Gewaltorgie verfasste der geflüchtete Kommunarde und Künstler Eugène Pottier in seinem Versteck ein Gedicht mit dem Aufruf „Steht auf, Verdammte der Erde!“ Zu seiner zündenden Melodie fand das Gedicht 1888 durch Pierre Degeyter und danach erlangte „Die Internationale“ – eine Anspielung auf die IAA -  Weltberühmtheit. In Deutschland begann die Internationale 1906 in der Übersetzung von Emil Luckhardt mit der Anfangszeile „Wacht auf, Verdammte dieser Erde“ ihren Siegeszug. 

 Während Pottier im Juni 1871 noch an dem berühmten Gedicht arbeitete, vollendete in seinem Londoner Studierzimmer ein dort seit 1849 ansässiger deutscher Emigrant ein Requiem für die gefallenen Helden: Karl Marx hatte den Heroismus der Pariser Aufständischen bewundert, ihre Er­folgsaussichten - wie bereits erwähnt - jedoch eher skeptisch beurteilt. Das Pariser Geschehen schien seiner in der Internationalen Arbeiterassoziation verfochtenen proletarischen Emanzipationsstrategie zuwider zu laufen. Ungeachtet grundsätzlicher Zweifel, bekannte er sich dennoch zum Kommuneaufstand, nicht zuletzt, um dessen Vereinnahmung durch Michail Bakunin entgegenzuwirken. Wie Marx dies tat, zählt zu seinen politischen Meisterleistungen. Dass es ihm keineswegs leicht gefallen ist, kann in den Kommentaren des Bandes I/22 der Marx-Engels-Gesamtausgabe ergründet werden. Mit Vertrauten vor Ort zu kommunizieren, war für ihn fast unmöglich. So war er hauptsächlich auf die Berichterstattung der Presse angewiesen und musste mehrere Anläufe nehmen, bevor sein Nekrolog „Der Bürgerkrieg in Frank­reich“ als offizielles Dokument der IAA weltweite Verbreitung fand. Marx’ englischer Biograf David McLellan spricht von der wirkungsmächtigsten aller Polemiken seines Helden. Für die posthume Wirkung von Marx, darauf hat der renommierte Politikwissenschaftler und Marx-Kenner Iring Fetscher verwiesen, sei sie deshalb von so erheblicher Bedeutung, weil Marx hier die föderalistische „Kommune-Verfassung“ als „die endlich entdeckte politische Form“ bezeichnet, „unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte“.

 

Marx erachtete es als unabdingbar, stehendes Heer, Polizei und Beamtenapparat abzuschaffen. „Die Kommune sollte nicht eine parla­men­tarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetz­ge­bend zu gleicher Zeit.“ Als ihre große soziale Maßregel galt ihm ihr eigenes arbeitendes Dasein. Ihre beson­deren Maßregeln hätten nur die Richtung andeuten können, „in der“ – nun gebraucht Marx die berühmte Demokratie-Formel Abraham Lincolns – „eine Regierung des Volkes durch das Volk sich bewegt“.

Die situative Deutung dieses demokratischen und frühsozialistischen Regierungsex­periments hat Marx bis in unsere Tage manche Schelte, aber auch Lob von unerwar­teter Seite, wie beispielsweise von Hannah Arendt, eingetragen. Das Kommunerequiem, dies sollten Bewunderer wie Kritiker bedenken, will und kann die politischen Partizipationsmechanismen künftiger Gesellschaften nicht vorweg­neh­men. Marx hat es vermieden, sich in dieser Frage festzulegen. Niemand kann vor­aus­sehen, was die geschichtliche Entwicklung am Ende hervorbringt. Am Beispiel der Kommune, dies dürfte unstrittig sein, plädierte er für radikaldemokratische Orga­nisationsformen und Mehrheitsentscheidungen auf der Grundlage des allge­meinen Wahlrechts.

Für einen historischen Augenblick schien die Geschichte im Aufstand der „Pariser Himmelsstürmer“ die Umrisse einer revolutionär erkämpften sozialistischen Gesell­schaft freizugeben. Die Tragödie des Scheiterns verlieh der Kommune symbol­träch­tige Bedeutung und erhob sie zum Gründungsmythos der modernen Arbeiterbe­we­gung.

 

Die Pariser KommunardInnen haben in nur 72 Tagen die Grundzüge eines revolutionären und basisdemokratischen Gemeinwesens entwickelt. Dieser Umstand erklärt sowohl, warum die Erinnerung an sie eingebrannt ist in das kollektive Gedächtnis der radikalen Linken, als auch die Tatsache, dass sie von den Herrschenden noch immer diffamiert wird. Die Aufforderung von Friedrich Engels – sich die Pariser Kommune als Modell des Sozialismus anzuschauen – birgt von daher noch immer eine enorme Sprengkraft. In diesem Sinne soll Lenin das letzte Wort haben, der im April 1911 schrieb: »Das Andenken an die Kommunekämpfer wird nicht nur von den französischen Arbeitern, sondern auch vom Proletariat der ganzen Welt in Ehren gehalten. Denn die Kommune kämpfte nicht für irgendeine lokale oder eng nationale Aufgabe, sondern für die Befreiung der gesamten werktätigen Menschheit, aller Erniedrigten und Verachteten.“

 

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